Dr. Nils Jent

Ein Leben am Limit

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  • ISBN: 978-3037630211
  • Mein Rating: 7/10

Dr. Nils Jent ist die Biografie von Nils Jent, der mit 18 Jahren mit dem Motorrad verunfallt und seither partiell gelähmt, blind, und sprechbehindert ist. Trotzdem hat er doktoriert, und arbeitet mittlerweile im Bereich Diversity an der Universität St. Gallen.

Mich hat die Biografie von Nils Jent stark beeindruckt, und ich ziehe den Hut vor seiner Leistung. Der biografische Teil des Buches (inklusive dreier Interviews) ist mit rund 150 Seiten relativ knapp ausgefallen, und hätte gerne noch etwas länger sein dürfen. Dafür hätte der zweite Teil des Buches (ca. 50 Seiten) zum Thema Diversity getrost weggelassen werden können. Eine Liste mit Literaturempfehlungen zu diesem Thema hätte gereicht.

Meine Notizen

Nils Jent

Jenseits vom Jenseits

Um dorthin zu gelangen, wo er heute ist, musste er gegen zahlreiche Widerstände ankämpfen. Er musste kreative Lösungen suchen, wo Barrierren unpassierbar erschienen, musste für sich reklamieren, was für andere selbstverständlich ist. Nur durch das wiederholte Sprengen von Grenzen kam Nils Jent seinem erklärten Ziel näher, in der Gesellschaft wieder Fuss zu fassen und sich sowohl als Persönlichkeit als auch durch seine Arbeit Respekt zu verschaffen.

Menschen, die ihn zum ersten Mal reden hören, stufen ihn zuweilen als betrunken oder geistig behindert ein.

Dass Nils Jent als blinder, partiell gelähmter und sprechbehinderter junger Mann ein Gymnasium absolviert, die Matura gemacht und später doktoriert hat, dass er heute ein weitgehend selbständiges Leben führt und in seiner eigenen Wohnung lebt, hätte sich vor dreissig Jahren kaum jemand vorstellen können.

Pfingsten 1980

Seit ich Nils Jent kenne, sehe ich den Alltag nur noch als Ansammlung von Hindernissen: Treppen, Schwellen, einsteigen in Autos, aussteigen aus Bussen oder Zügen. Für jemanden wie Nils sind das Albträume. Die berührungsempfindlichen Bildschirme der Billettautomaten sind für ihn ebenso wertlos wie ein Handy, dessen Handhabung höchste feinmotorische Geschicklichkeit erfordert.

Nicht tot. Eine treffende, wenn auch makabre Beschreibung von Nils Jents Zustand nach seinem Unfall. Nicht tot, aber auch nicht wirklich lebendig.

Sie fahren die Strecke ein zweites Mal ab und machen mehrmals Halt. Aber auch diese Suche bleibt erfolglos. Keine Spur von Nils. Später wird ihnen bewusst werden, dass sie, ohne es zu wissen, viermal die Stelle passiert haben, wo ihr Freund in der Unterführung im Sterben lag.

Ein guter Chirurg braucht viel Fantasie

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Testpilot

Er erinnert sich an seine Pubertät als schwierige Zeit, in der seine Selbstwahrnehmung stark von der Einschätzung seines Umfeldes abweicht. Während er voller Selbstzweifel ist und sich als relativ trottelig sieht, finden seine Lehrer, Bekannte, Freunde und auch seine Eltern, er sei recht intelligent und zu vielem fähig.

Seine Behauptung, dass er heute trotz allem so etwas wie ein Testpilot sei, verstehe ich nicht gleich, und er muss mir auf die Sprünge helfen: "Ich kann nur funktionieren, wenn ich täglich ans Limit gehe und die Technik bis aufs Letzte ausreize. Ich würde nicht stehen, wo ich heute stehe, ich hätte nicht erreicht, was ich erreicht habe, wenn ich nicht jederzeit bereit gewesen wäre, Grenzen zu sprengen, Neuland zu betreten, ans Unmögliche zu glauben und durchzuhalten."

Das Bekenntnis zu einer Gruppe ist für den jungen Nils immer ein Ja-aber. Die dazugehörigen Zwänge missfallen ihm. Er ist zwar oft mit anderen zusammen und sieht sich als Teil eines Teams, will aber jederzeit sagen können: Ich habe jetzt keinen Bock auf euch und gehe meinen eigenen Weg. Ein Individualist, der jederzeit abtauchen kann, wenn ihm danach ist.

Bei allem Schmerz ist er überzeugt, dass es richtig ist, dass Dagmar [seine damalige Freundin] ihren eigenen Weg geht. Er fragt sich, ob er es überhaupt verantworten könnte, dass dieser Mensch, der sein ganzes Erwachsenenleben noch vor sich hat, seine Zukunft und seine Träume für ihn aufgibt und verbaut. Durch den Unfall hat er, soeben noch ein unbeschwerter Jugendlicher, von einem Moment auf den nächsten gelernt, wie ein Erwachsener zu denken und zu handeln.

Dunkelheit

In dieser einen Minute während der Liftfahrt [von der Intensivstation zur Pflegeabteilung] wird ihm zum ersten Mal bewusst, dass sein Leben nie mehr so sein wird wie früher. Im Kopf ist er ein fitter Mann, aber körperlich geht überhaupt nichts mehr. Er kann sich kaum bewegen, sieht nichts, fühlt nichts. Einzig das Gehör und das Gehirn funktionieren noch.

Er versucht sich mit Zuckungen bemerkbar zu machen, mit dem Resultat, dass die Ärzte denken, er habe einen epileptischen Anfall, und ihm eine Beruhigungspille geben wollen.

Vor dem Unfall hatte er noch Träume und Visionen. Stellte sich vor, wo er in zehn, fünfzehn Jahren sein würde. Damit ist jetzt Schluss. Ab sofort ist nichts mehr planbar. Nils muss sich auf die Gegenwart konzentrieren und sein Leben im Moment anpacken.

Schachmatt

Waren die optischen Signale vorher dominant, so sind es jetzt die akustischen. Mit dem Unterschied, dass man mit den Augen gezielt etwas anschauen kann, während das Gehör wahllos aufnimmt, was hereinkommt.

Als Hélène ihrem Sohn von den Einschätzungen der Ärztin erzählt, ist Nils bitter enttäuscht. Wer einzig von der Hoffnung lebt, mag sich diese nicht zerstören lassen.

Was Nils am meisten zu schaffen macht, sind die vielen Leute, die ihn behandeln, als hätte er nicht alle Tassen im Schrank. Einmal redet man mit ihm wie mit einem Kind, einmal begegnet man ihm wie einem Betrunkenen, oder man ignoriert ihn einfach. Man vergisst ihn. Mehr als einmal sitzt er nach der Therapie in seinem Rollstuhl vor einem Lift, und niemand holt ihn ab.

Intellektuell zu unterliegen schmerzt mehr, als wenn man im Armdrücken besiegt wird.

In Bellikon [in der Rehaklinik] beginnt man zu realisieren, dass der blinde und partiell gelähmte Patient, dem man bis vor kurzem nur sehr wenig zutraute, intellektuell voll auf der Höhe ist. [...] Nachdem er zum ersten Mal einen Chefarzt schachmatt gesetzt hat, meint dieser verblüfft, der Patient könne wohl kaum so doof sein, wenn er fähig sei, ihn, den Herrn Doktor, zu schlagen.

Nils Jents persönliche Schachnovelle löst bei ihm selbst einen Aha-Effekt aus: Ich kann etwas lernen, trotz meiner physischen Einschränkungen. Wenn ich mir das Schachspiel beibringen kann, dann sollte auch mehr drinliegen, denkt er sich.

Rita

Nils weiss mit Bestimmtheit, dass er sich nicht mit einer behinderten Frau zusammentun möchte, das wäre nicht gut. Es würde lediglich die Defizite von beiden verstärken.

Signalisieren, dass man keinen Knall hat – Gespräch mit Joachim Schoss

Etwas wesentliches, was in den ersten Tagen nach so einem Schicksalsschlag innerlich vor sich geht, ist die Entscheidung: Akzeptiere und kämpfe ich, oder hadere ich und gebe mich dem Schicksal hin?

Meine Behinderung [Verlust von einem Arm und einem Bein aufgrund eines Unfalls] gilt als gesellschaftlich okay, und ich erfahre grosse, spontane Hilfsbereitschaft und Unterstützung. Aber wenn jemand ein entstelltes Gesicht hat, wenn einer undeutlich spricht oder psychische Probleme hat, dann hat er in der Gesellschaft viel mehr Mühe.

Zukunft?

Nach intensiven Tests schlägt dieser [ein Berufsberater] vor, eine Tätigkeit als Peddigrohrflechter oder Kaltschweisser anzustreben. [...] Ein lächerlicher Vorschlag: Wie sollte er handwerklich arbeiten, wenn gerade die Feinmotorik und die Sensorik seiner Hände nur äusserst bedingt funktionsfähig sind? Wie sollte er das psychisch aushalten, wenn er tagtäglich Bewegungen ausführen müsste, die seine Schwächen betonen, anstatt auf seinen Stärken aufzubauen?

Verlobung

Viele der Schubladenlösungen, die aus Erfahrung bei den meisten Patienten funktionieren, scheitern bei ihm. Seine Problemstellungen sind durch die Kombination von Seh- und Bewegungsbehinderungen ungewöhnlich.

Er gerät an den Rand seiner Kräfte und stellt sich schon vor, wie schön es wäre, wenn dieser ganze Horror einfach vorbei wäre. Es sind nicht aktive Suizidgedanken, die ihm durch den Kopf gehen. Dafür ist er zu realistisch und zu dankbar für alles, was er trotz seines Schicksalsschlags erleben durfte. Einfach ein Leben wegschmeissen und alle Energie vernichten, die man reingesteckt hat, das tun nur Idioten.

Kassetten

Seine Arbeitsweise ist exotisch und aufwendig zugleich, paukt er doch den gesamten Stoff mithilfe von Audiokassetten.

Er, der mit den grössten Handicaps angetreten ist, um zu beweisen, dass er weder geistig zurückgeblieben ist noch als Peddigrohrflechter taugt, wird an der Evangelischen Mittelschule Schiers für die beste Matura des Jahres ausgezeichnet.

Ungeschützt

Er hat nur ein Ziel: Er will sich aus der Abhängigkeit der Invalidenversicherung lösen und einen guten Job kriegen, was mit Doktortitel logischerweise einfacher ist als ohne.

Wir haben Nils nie klagen gehört – Gespräch mit Nils Jents Eltern Hélène und Cuno Jent

Die Leute sehen es vermutlich nicht gern, wenn ein Behinderter erfolgreich ein Studium absolviert, während ihre Töchter und Söhne schon im ersten Semester stöhnen und womöglich scheitern.

Seit er promoviert hat, sind wir für einige Leute gestorben. Ich glaube, das ist manchen unheimlich. Jetzt hat dieser Behinderte doktoriert. Was soll das überhaupt? Der wäre doch besser Korbflechter geworden.

Was hat es für einen Sinn, sich zu zermürben wegen etwas, was man nicht mehr ändern kann?

Absturz

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Zurück im Leben

Viele von ihnen [seinen Studenten] betonen, sie seien noch selten einem Menschen mit so viel Lebenslust begegnet.

Wer beide Augen auf das Ziel in der Zukunft richtet, hat kein Auge mehr frei, um heute den Weg zu diesem zu sehen.

Diversity

Warum Diversity?

Diversity-Management ist eine Art der Unternehmensführung, die die Vielfalt des realen Lebens einbezieht und in den Belegschaften zu spiegeln versucht.

Worum geht es genau?

Heute sieht man Gleichstellung als übergeordnetes Ziel, welches einen Zustand beschreibt, in der alle Mitglieder einer Belegschaft – oder Gesellschaft – ihre Fähigkeiten und Potenziale ohne Einschränkungen entwickeln können.

Im Gegensatz zur blossen Gleichstellung sollen durch Diversity alle – auch das Unternehmen selbst – einen Zusatznutzen haben.

Viel bewegt – und doch nichts erreicht?

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Integration ist wahnsinnig anstrengend

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Ein Nachmittag kann Wunder bewirken – Gespräch mit Martin und Lienhard Widmer

Bei Menschen mit Handicaps ist es oft so: Entweder du überforderst sie oder du unterforderst sie.

Wenn ich jemanden anstellen will, dann schaue ich zuerst, wie er mit unseren vier Behinderten im Betrieb umgeht. Wenn er ihnen gegenüber schleimt, stelle ich ihn nicht an. Wenn er sie links liegen lässt, stelle ich ihn auch nicht an. Aber wenn er mit ihnen normal umgehen kann, merke ich, dass er eine gesunde Sozialkompetenz hat. Ich lese an Marco, Jacqueline, Basil und Barbara die Stimmung im Betrieb ab. Wenn sie hypern, ist der ganze Betrieb nervös. Aber wenn es ihnen gut geht, ist meist alles in Ordnung. Sie sind die Seismografen unseres Betriebs.

Andreas Lehmann

Nachtrag

Menschen neigen dazu, die Medaille mit der zerkratzten Seite nach oben zu drehen, statt sie auf ihrem Rand kreisen zu lassen und sich so an der Energie der schönen Seite zu laben. Wer es schafft, beide Seiten konstruktiv in sein Leben zu integrieren, profitiert entscheidend. Wo wäre ich heute, wenn ich damals stehen geblieben wäre – im sinnlosen Nachsinnen und der Frage nach dem Warum? Eine Frage, auf die es nie eine Antwort geben wird.

Nils Jent