Bevor ich jetzt gehe
Was am Ende wirklich zählt – Das Vermächtnis eines jungen Arztes
von Paul Kalanithi
- Buch auf Amazon
- ISBN: 978-3813507256
In Bevor ich jetzt gehe erzählt der Autor im ersten Teil von seiner Ausbildung und Arbeit als Neurochirurg, und im zweiten Teil von seinem Kampf gegen den eigenen Lungenkrebs. Einen Kampf, den er noch während seiner Arbeit am Buch verloren hat...
Aufgrund der Buchbeschreibung hatte ich ein philosophischeres Buch erwartet, welches sich mit der Endlichkeit des Lebens und dem Sterben auseinandersetzt. Diese Aspekte sind zwar auch Bestandteil des Buches, für mich geht das Buch jedoch eher in Richtung Autobiografie. Der Werdegang des Autors zum Neurochirurgen und der Klinikalltag nehmen viel Platz ein. Das Buch ist interessant zu lesen, doch erstaunlicherweise haben mich die beiden Teile des Buches kaum berührt und der Autor ist mir fremd geblieben. Dies änderte sich erst mit dem Nachwort seiner Ehefrau, welches mich zutiefst berührt hat...
Meine Notizen
Prolog
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Teil I - Der Arzt
Man denkt ja, es wird einem ein wenig mulmig, wenn man zum ersten Mal einen Toten aufschneidet. Komischerweise aber fühlt es sich ganz normal an.
Für viele beginnt mit der Leichensektion die Verwandlung eines sachlichen, respektvollen Studenten in einen abgestumpften, arroganten Arzt.
Als ich mit meiner Leiche konfrontiert war, aufgedunsen und bläulich angelaufen, waren dieses absolute Totsein und dieses absolute Menschsein unleugbar. Zu wissen, dass ich in vier Monaten den Kopf dieses Mannes mit einer Metallsäge zweiteilen würde, schien einfach gewissenlos zu sein.
Im Anatomiesaal verdinglichten wir die Toten, wir reduzierten sie buchstäblich auf Organe, Gewebe, Nerven, Muskeln. Am ersten Tag kann man nicht über die Menschlichkeit der Leiche hinwegsehen, aber wenn man die Gliedmassen gehäutet, die sperrigen Muskeln durchtrennt, die Lunge herausgenommen, das Herz geöffnet und ein Stück Leber entnommen hat, kann man diesen Haufen Gewebe nur noch schwerlich als einen Menschen erkennen.
Die Medizin übertritt grundsätzlich Tabugrenzen. Ärzte dringen auf jede erdenkliche Art und Weise in einen Körper ein. Sie erleben Menschen in ihrer grössten Verletzlichkeit, ihrer grössten Angst, ihren intimsten Momenten. Sie helfen ihnen auf die Welt und befördern sie wieder hinaus. Einen Körper als Ding und als Mechanismus zu betrachten ist die Kehrseite der Tatsache, dass Ärzte die grössten Qualen der Menschen lindern.
Die sauberen medizinischen Diagramme stellen die Natur der Dinge mitnichten dar. Das hier war die Wirklichkeit: aus Fleisch und Blut. Mir wurde klar, dass die Ausbildung zum praktizierenden Arzt etwas ganz anderes war als das Medizinstudium.
In der Tat suchen sich 99 Prozent der Menschen ihren Job nach Bezahlung, Arbeitsklima und Arbeitszeiten aus. Aber genau das ist der Punkt: Wenn der Lebensstil an erster Stelle steht, findet man einen Beruf, aber man hat keine Berufung.
Da wir die Welt durch unser Gehirn vermittelt wahrnehmen, zwingt jedes neurologische Problem einen Patienten und seine Angehörigen, im Idealfall mit einem Arzt an der Seite, die Frage zu beantworten, was dem Leben ausreichend Sinn verleiht, um es fortzusetzen.
Ich machte Fehler, brachte einen Patienten schnell in den OP und konnte doch nur so viel Gehirntätigkeit aufrechterhalten, dass sein Herz weiterschlug. Der Patient konnte nicht mehr sprechen, musste künstlich ernährt werden und war zu einem Leben verdammt, das er niemals gewollt hätte. Für mich war das ein schlimmeres Versagen, als wenn ein Patient starb.
Anstatt zu sagen, die mittlere Überlebensdauer sind elf Monate oder: Mit 95-prozentiger Wahrscheinlichkeit werden sie in zwei Jahren tot sein, sage ich lieber: Die meisten Patienten leben einige Monate oder Jahre.
Die schweren Konsequenzen, die Fehler nach sich ziehen konnten, hatten mich zu der Überzeugung gebracht, dass technische Geschicklichkeit eine moralische Grundvoraussetzung war. Gute Absichten allein genügten nicht, nicht wenn so viel von meiner Fingerfertigkeit abhing und wenn der Grat zwischen Tragödie und Triumph nur ein, zwei Millimeter breit war.
Der absolute Tabu-Bereich jedoch ist das Sprachzentrum, dass sich für gewöhnlich in der linken Gehirnhälfte befindet. Es besteht aus dem Wernicke-Zentrum – für das Verstehen von Sprache zuständig – und dem Broca-Areal, das für das Äussern von Sprache zuständig ist... Ist das Broca-Areal beschädigt, kann der Patient nicht mehr sprechen oder schreiben, aber er kann alles verstehen. Ist das Wernicke-Zentrum betroffen, kann der Patient nichts mehr verstehen, sehr wohl jedoch sprechen, wobei diese Sprache aus einem Konglomerat unzusammenhängender Wörter und Sätze besteht – einer Sprache ohne Bedeutungsgehalt. Sind beide Bereiche geschädigt, ist der Patient ganz in sich eingeschlossen und damit eines zentralen Faktors seines Menschseins beraubt. Wenn diese Bereiche aufgrund einer schweren Kopfverletzung oder eines Schlaganfalls in Mitleidenschaft gezogen wurden, halten sich Chirurgen oft zurück, dieses Leben zu retten. Denn was ist ein Leben ohne Sprache?
"Wie geht es Ihnen heute, Mr Michaels?" - "Viersechseinsachtneunzehn", antwortete er munter. Der Tumor hatte seine Sprachfähigkeit beeinträchtigt, sodass er nur noch Zahlen sagen konnte [...].
Wenn das Sprachzentrum von Tumoren oder Anomalien betroffen ist, [...] wird die Operation vorgenommen, während der Patient wach ist und spricht.
Teil der ärztlichen Pflicht besteht darin, sich damit auseinanderzusetzen, was das Leben eines konkreten Patienten lebenswert macht, und genau dies, wenn möglich, zu erhalten. Zu dieser Pflicht gehört es auch, einen Patienten in Frieden sterben zu lassen, sollte das nicht möglich sein.
Teil II - Der Patient
Ich hatte in meinem Leben eine Zukunft aufgebaut, die ich nun nicht mehr erleben würde. Ich hatte so viel vorgehabt und war so nahe dran gewesen. Mit der körperlichen Schwächung brachen die Träume und meine Identität in sich zusammen, ich steckte im selben existenziellen Dilemma wie sonst meine Patienten. Der Tod, der mir bei der Arbeit so vertraut gewesen war, besuchte mich jetzt persönlich.
Vor der Krebsdiagnose wusste ich, dass ich irgendwann sterben müsste, wusste aber nicht, wann. Danach wusste ich, dass ich eines Tages sterben würde, wusste aber auch nicht genau, wann. Allerdings war mir die Realität meiner Sterblichkeit nun wirklich bewusst.
Als Arzt hat man eine Ahnung davon, wie es sich anfühlen muss, krank zu sein, aber richtig weiss man es erst, wenn man selbst eine schwere Krankheit durchmacht.
Das Vertrackte an einer lebensbedrohlichen Krankheit ist, dass sich die persönlichen Werte andauernd verändern. Ständig versucht man herauszufinden, was einem wichtig ist, grübelt unentwegt. Man beschliesst, wieder als Neurochirurg zu arbeiten, doch zwei Monate später kann man ganz anderer Ansicht sein, vielleicht will man Saxofon spielen lernen oder sich mit Religion beschäftigen. Der Tod mag ein einmaliges Ereignis sein, doch mit einer tödlichen Krankheit zu leben ist ein Prozess.
Meine Knochen zeichneten sich unter der Haut ab, ich sah aus wie ein wandelndes Röntgenbild. Schon allein den Kopf aufrechtzuhalten war anstrengend. Wollte ich ein Glas Wasser anheben, brauchte ich beide Hände.
Zeit ist für mich etwas Zweischneidiges geworden. Jeder Tag entfernt mich weiter von meinem letzten Rückfall, bringt mich dem nächsten – und schliesslich dem Tod – aber näher. Vielleicht werde ich später sterben, als ich heute annehme, aber ganz bestimmt früher, als ich mir wünsche.
Am naheliegendsten wäre der Impuls, sich in hektische Aktivität zu stürzen, das Leben voll auszukosten, zu reisen, essen zu gehen, alles zu erledigen, was man schon immer tun wollte. Doch eine der grausamen Begleiterscheinungen von Krebs ist nicht nur, dass er die Zeit begrenzt, sondern auch die Energie, und damit reduziert er das Pensum, das man in einen Tag pressen kann, beträchtlich.
Nachwort von Lucy Kalanithi
Neue Scans bestätigten, dass der Lungenkrebs sich verschlimmerte und sich nun auch im Gehirn Tumore gebildet hatten, darunter eine leptomeningeale Karzinose, eine seltene und todbringende Durchsetzung der weichen Hirnhaut mit Karzinomen. Die prognostizierte Lebensdauer betrug nur wenige Monate und ging mit einem drohenden raschen neurologischen Verfall einher. Diese Nachricht traf Paul hart. Er sagte nicht viel, aber als Neurochirurg wusste er nur zu gut, was ihm bevorstand. Er hatte seine begrenzte Lebenserwartung akzeptiert, doch die Aussicht auf einen Schwund von Geisteskraft und Handlungsfähigkeit inmitten seines Todeskampfes war ein neuer lähmender Schlag.
Ich ging wieder zu Paul. Er sah mich mit seinen wachen, dunklen Augen über den Rand der Maske hinweg an und sagte leise, aber ganz deutlich und mit fester Stimme: "Ich bin bereit." Damit meinte er: die Beatmung abzustellen, Morphium zu nehmen, zu sterben.
Ich legte sie Wange an Wange neben Paul, Strähnen ihrer dunklen Haare vermischten sich. Pauls Gesicht war friedvoll, Cady blickte fragend, aber ruhig drein – sein geliebtes Baby, das keine Ahnung hatte, dass dieser Augenblick ein Abschied war.
Als Arzt und als Patient hat Paul dem Tod in die Augen geblickt, er hat ihn analysiert, mit ihm gerungen, ihn angenommen. Er wollte Menschen helfen, den Tod zu verstehen und sich mit ihrer Sterblichkeit auseinanderzusetzen.
Paul war todkrank, aber er war vollkommen lebendig. Trotz seiner körperlichen Hinfälligkeit blieb er dynamisch, offen und voller Hoffnung – nicht auf eine unwahrscheinliche Heilung, aber auf Tage voller Sinn und Zweck.
"Man kann niemals volle Perfektion erreichen, aber man kann daran glauben, dass man sich ihr stetig annähern kann."