Uns kriegt ihr nicht

Als Kinder versteckt – jüdische Überlebende erzählen

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  • ISBN: 978-3492055215
  • Mein Rating: 8/10

In Uns kriegt ihr nicht erzählen 15 jüdische Überlebende, wie es ihnen als Kinder resp. Jugendliche gelang, der Judenvernichtung während des Zweiten Weltkrieges zu entkommen.

Ich fand die in Uns kriegt ihr nicht erzählten Lebensgeschichten beeindruckend und faszinierend. Faszinierend deshalb, weil oft ein unglaublicher Zufall über Leben oder Tod entschied. Die Erzählungen sind relativ knapp ausgefallen und hätten gerne etwas länger sein dürfen.

Meine Notizen

Einleitung

Unterzutauchen bedeutete einen radikalen Schnitt mit dem bisherigen Leben. Viele der Untergetauchten waren nach preussischen Grundsätzen erzogene deutsche Juden. Sich Anordnungen zu widersetzen fiel ihnen schwer. Es gibt Geschichten von Deportierten, die vor ihrer Abholung durch die Gestapo noch ihre Wäsche ausbesserten und ihre Wohnung gründlich putzten. Man sollte ihnen schliesslich nichts Schlechtes nachsagen.

In vielen Geschichten existiert dieser eine unerklärliche Punkt, an dem die ansonsten perfekte Nazimaschinerie aus unerfindlichen Gründen versagte. Diese wenigen Lücken im "System" ermöglichten ein Überleben.

Selbst in einem diktatorischen Regime wie dem Nationalsozialismus gab es nicht nur Schwarz und Weiss. Ein NS-Ortsgruppenführer, der wissentlich eine Mutter mit ihren beiden jüdischen Kindern mit Essen versorgte, war ebenso eine reale Figur wie die jüdische Greiferin.

Franz Michalski: "Mein Vater konnte alles besorgen, auch überlebenswichtige Kontakte"

Die Nazis haben alles verändert. Sie haben aus Menschen, die allenfalls auf dem Papier jüdisch waren, Juden gemacht, aus sanften Männern Kämpfer und aus fröhlichen Kindern ernste Erwachsene.

Mich nannten die Ursulinen nicht Franz, sondern den "Judenlümmel". Die anderen Kinder riefen sie beim Namen.

Im zerstörten Bahnhof sitzen verkohlte Leichen in ausgebrannten Zügen. Menschen, auf Kindergrösse geschrumpft, liegen herum, abgerissene Arme, Beine, ganze Familien im Tod erstarrt. Wegschauen hilft nicht, denn sie sind überall. Dazwischen laufen wir Lebenden.

"So wird sie entsichert", sagt er [der Vater]. "Sie ist geladen. Wenn die Gestapo kommt, erschiesst du zuerst deine Mutter, dann deinen Bruder und dann dich."

Margot Friedländer: "Ich hatte doch noch nicht gelebt"

Laut Kriegswirtschaftsverordnung stand auf das, was wir machten, die Todesstrafe. Heute frage ich mich, woher ich den Mut nahm, als Untergetauchte draussen herumzulaufen und Waren illegal zu verkaufen. Wahrscheinlich, weil ich ohnehin dem Tod geweiht war.

Rahel Renate Mann: "Meine Mutter hat mich nie gewollt, vielleicht hat mir das geholfen"

Ich habe als kleines Kind keine heile Familie, keine zärtliche Mutter, kein geborgenes Zuhause gekannt. Deswegen haben mir diese Dinge im Versteck auch nicht gefehlt.

Die Toten sind still. Schrecklich sind die Verletzten, die aus den Kellern gezogen werden und schreien. Den Tod dagegen empfinde ich schon als Kind als etwas Schönes, das befreit.

Je öfter ich darüber nachdenke, desto sicherer werde ich, dass mein Alter ein Segen war. Ich begriff vieles noch nicht, was Anne [Frank] und Inge [Deutschkron] schon verstanden. Deswegen verspürte ich keine Angst.

Innerlich sass ich noch lange im Keller, auch nach meiner Befreiung.

Walter Frankenstein: "Ich habe eigentlich nie Angst gehabt"

Jiu Jitsu nahm mir die Angst. Das hat mir später im Untergrund mehr als einmal das Leben gerettet. Angst riecht. Angst ist für andere spürbar. Ich blieb auch als versteckter Jude bei einer Kontrolle durch die SS gelassen.

Alle Angebote, sie [die Mutter] in Sicherheit zu bringen, lehnte sie ab. Sie wollte niemandem zur Last fallen.

Ich sollte in seinem Zimmer eine Telefonleitung verputzen. [...] Eichmann sah nicht mich an, sondern nur meine Schuhe. Ohne den Kopf zu heben, sagte er beiläufig: "Jude, ein Fleck auf dem Teppich, und morgen bist du in Auschwitz."

Wir wollten ihn eigentlich Peter nennen, aber eine NS-Verordnung bestimmte, dass jüdische Neugeborene keine deutschen Vornamen tragen durften.

Bis zum heutigen Tage denke ich über diesen Leutnant nach. [...] Er hatte mich klar durchschaut. Warum liess er mich trotzdem laufen? Es waren Menschen wie er, die in dieser Zeit über mein Leben oder meinen Tod entschieden.

Ina Iske: "Wir waren zwischen zwei Übeln gefangen – Hitler und Stalin"

Es ist Frühjahr, und die HJ singt zur Begrüssung für uns. Für sie sind wir lang vermisste deutsche Heimkehrer aus Estland. Da ich inzwischen weiss, dass ich als Halbjüdin eine Feindin des Deutschen Reichs bin, muss ich innerlich kichern.

Heinz "Coco" Schumann: "Der Musik verdanke ich mein Leben"

Nicht nur einmal versuchten die Nazis, ihn [den Vater] zu erpressen: Sie stellten ihn vor die Wahl, sich scheiden zu lassen oder er werde seine Arbeit verlieren. Er hielt immer zu uns.

Vor den Toren des Lagers [Auschwitz-Birkenau] musste ich spielen, die Lagerleiter wünschten sich "La Paloma", während die Menschen ihren letzten Weg ins Gas gingen.

Miriam Magall: "Erst mit 18 erfuhr ich von meinem zweiten, versteckten Leben"

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Gisela Jacobius: "Ich war ein hübsches, freches Mädchen, das war meine Chance"

Zur Arbeit fuhren Mutter und ich mit der U-Bahn. Als Sternträger hatten wir von der Polizei Fahrausweise abholen müssen, auf denen genau festgelegt war, welche Linien wir vom Wohn- zum Arbeitsort benutzen durften. Auch mussten wir in der Bahn stehen.

Einmal packte mir ein Herr an der Kasse ein Tütchen Puddingpulver umsonst in die Tüte. Ein anderes Mal gab mir eine Frau in einem Schreibwarengeschäft ein in Zeitung gewickeltes Paket mit Briketts. Solche Erlebnisse waren wichtig. Sie machten Mut, zeigten mir, dass nicht alle mit dem Naziterror gegen uns einverstanden waren. Es waren kleine, aber bedeutende Gesten der Menschlichkeit in einer grausamen Zeit.

Zweieinhalb Jahre werden sie [die Eltern] und ich uns verstecken. Zweieinhalb Jahre werden wir leben, weil andere uns helfen, werden leben, weil wir manchmal Mut, manchmal Glück haben.

Es war eine absurde Situation: Ein SS-Mann und wir versteckt im gleichen Keller, vereint in der Angst, weil uns die Befreier unter Beschuss nahmen.

Rolf Joseph: "Ich wollte einfach nur leben"

Für seinen Fronteinsatz [im Ersten Weltkrieg] hatte Deutschland ihm [dem Vater] das Eiserne Kreuz verliehen. Er war sicher, dass ihm nichts geschieht. Leider sollte er nicht recht behalten.

Ich sage den Namen, der mir als erster einfällt. "Rolf Wagner". Der eine [Militärpolizist] zieht mehrere Listen mit Namen hervor. Er sieht sie sorgfältig durch: "Na, wunderbar! Dich suchen wir ja." Es ist eine Liste von Deserteuren. Ausgerechnet ein Rolf Wagner steht darauf. Ich muss mit zum Polizeirevier.

[SS-Oberscharführer] Dobberke sieht mich kurz an und entscheidet, dass ich in den Bunker I komme. Bunker I ist nur einen Meter hoch. Da hinein kommen nur die Schwerverbrecher. Wochenlang liege ich auf der Erde. [...] Ich nähere mich einem Zustand der Verrücktheit, als es nach Wochen heisst: "Morgen kannst du in einen Transport nach Auschwitz." Ich bin richtig glücklich. Ich habe den Namen vorher nie gehört.

Auf den letzten 200 Metern zur Polizeiwache setze ich alles auf eine Karte. Ich bleibe einfach stehen: "Wissen sie", sage ich, "sie können mich jetzt hier auf der Stelle erschiessen. Das, was ich durchgemacht habe, schaffe ich nicht noch einmal." Die beiden sprechen leise miteinander. Schliesslich wendet sich einer der beiden mir zu: "Hau ab! Verschwinde, so schnell wie möglich." Sie lassen mich laufen.

Margit Siebner: "Vaters Bücher und Mutters Zigarren waren meine Rettung"

Seit meine Eltern sich scheiden lassen mussten, dürfen er und sie keinen Kontakt mehr haben. Die Scheidung war die Bedingung für Vaters Emigration nach Schanghai.

Wirklich Angst habe ich nur vor dem Blockwart. Seit Krieg ist, lebt er bei uns in der Häuserzeile. Überall haben sie nun Luftschutzkeller eingerichtet, bei einer Luftschutzübung sagte der Blockwart ganz laut: "Die Judengöre soll verrecken." Seitdem darf ich nicht mehr in den Bunker.

Ruth Hermges: "Wir haben als einzige jüdische Familie in Mönchengladbach überlebt"

Auf die Strasse zu gehen war demütigend, selbst als Kind spürte ich das. Wir durften nicht mehr auf dem Bürgersteig laufen, sondern nur auf der Fahrbahn, und seit ich lesen konnte, bemerkte ich an den Geschäften, Restaurants, Strassenbahnen und Parkbänken Schilder: Für Juden verboten.

Chaim Harald Grosser: "Wir mussten so leben, als gäbe es uns nicht"

Mein Vater war ein einfaches NSDAP-Mitglied, aber eines mit grosser Klappe. Er hatte eine jüdische Frau geheiratet, ohne zu wissen, dass sie Jüdin war.

Ruth Winkelmann: "Berlin ist meine Stadt, ich wollte sie mir nicht nehmen lassen"

Meine Eltern wollten noch vor 1933 nach Israel auswandern. Meine Grosseltern weigerten sich, ihnen dafür Geld zu geben. Sein Vaterland wegen ein paar Rabauken zu verlassen, das empfand mein Grossvater als Verrat. Später bereute er diese Einstellung.

Hana Laufer: "Ich blieb noch lange das stille Kind aus dem Keller"

Ich war selbst erst fünf Jahre alt, aber dafür verantwortlich, dass Eva [die jüngere Schwester] still war.

Meine Mutter war wieder schwanger. Ich weiss nicht, was sich meine Eltern dabei dachten. Meine jüngste Schwester Sonja wurde im Januar 1945 geboren. Sofort nach der Geburt kam sie zu mir in den Keller. Ich war nicht einmal sechs und verantwortlich für ein Baby und ein Kleinkind.

Eugen Herman-Friede: "Als Schüler kämpfte ich dafür, Hitlerjunge zu sein, später gegen Hitler"

"Vorname?" Ohne abzuwarten schreibt er "Israel", sagt: "So heissen doch alle Judenschweine."

Meine Mutter und mich brachten sie nach Potsdam. Dort begegnete ich ihr noch einmal. Sie wirkte ganz gefasst. Sie zerbrach ihre Brille und drückte mir ein scharfes Glasstück in die Hand. "Für den Fall, dass es gar nicht mehr geht." Ich warf die Scherbe demonstrativ auf den Fussboden. Ich wollte leben.