Musse
Vom Glück des Nichtstuns
von Ulrich Schnabel
- Buch auf Amazon
- ISBN: 978-3570551752
Musse ist ein Plädoyer gegen das "immer schneller" und "immer mehr" unserer Zeit. Der Autor beschreibt darin die Ursachen der allgemeinen Zeitnot, und wie wir Inseln der Musse finden können.
Ich fand Musse ein eher durchschnittliches Buch, welches zwar sehr viele Bereiche rund um die Musse und das Nichtstun anschneidet, doch leider nichts vertieft. Auch die Porträts von Müssiggängern waren leider etwas kurz, ich hätte gerne noch mehr über diese interessanten Personen erfahren...
Meine Notizen
Einführung: Eine Diät fürs Denken
Wir leiden an Reizüberflutung und dem Gefühl ständiger Überforderung – und gieren doch nach schnelleren Datenleitungen und noch leistungsfähigeren Handys; wir sind permanent online und allzeit erreichbar – und haben ständig Angst, etwas zu verpassen und abgehängt zu werden; wir fühlen, wie unsere Zeit immer knapper wird, und sehnen uns nach Musse – und fürchten zugleich nichts so sehr wie das Nichtstun und die Langeweile.
Statt in unserer jeweiligen Handlung aufgehen und im besten Falle den Flow, den Rausch des konzentrierten Schaffens erleben zu können, fühlen wir uns zunehmend fahrig, fremdgesteuert und irgendwie nur halb anwesend. Was dabei auf der Strecke bleibt, sind nicht nur die Ruhe zum Nachdenken und die Fähigkeit zum konzentrierten, effektiven Arbeiten, sondern etwas viel Grundsätzlicheres: das Erleben der Gegenwart und damit die Wertschätzung unseres Lebens selbst, das immer nur im Jetzt stattfindet und nie in der Erinnerung an Gestern oder der Planung von Morgen.
Wir leben in einer "Beschleunigungsgesellschaft", in der das Gefühl des Gehetztseins zum Dauerzustand geworden ist; Leistung wird über alles gestellt, das Nichtstun, der nicht zweckgebundene Müssiggang, gilt als unproduktiv und Verschwendung von (Lebens-)Zeit.
In einer Leistungsgesellschaft, die das Wachstum, den Konsum und die persönliche Erlebnismaximierung feiert, wird das Nichtstun zum bitteren Genuss.
Um die Kraft für einen Richtungswechsel zu finden, benötigen wir ausgerechnet das, was uns am meisten fehlt: Musse und Zeit. Musse, um neue Ideen zu entwickeln, Zeit, um unsere eingefahrenen Verhaltensweisen zu überprüfen und Alternativen zu erproben, in unserem eigenen Leben wie in der grossen Politik.
Oft kommt der entscheidende Durchbruch gerade dann, wenn man ihn am wenigsten erwartet und das rationale Denken eigentlich mit etwas anderem beschäftigt ist.
Gewonnene und verlorene Zeit
Im Teufelskreis des Rasierapparates
Wir sehen uns dem Paradox gegenüber, dass wir keine Zeit haben, obwohl wir sie doch im Überfluss gewinnen.
Wer es dank Zeitmanagement schafft, noch mehr Dinge in noch kürzerer Zeit zu erledigen, profiliert sich als besonders effizienter Angestellter, der umgehend mehr Arbeit aufgebürdet bekommt.
Die Missverständnisse um die Musse
Die Empfindung der Zeitnot ist längst kein persönliches Problem mehr, sondern ein kollektives. Wer von lauter gehetzten Menschen umgeben ist, kann sich dieser Atmosphäre nicht ohne weiteres entziehen.
Ein Missverständnis ist, dass zur Musse besondere Auszeiten nötig seien, die sich nur ausserhalb des gewöhnlichen Alltags und mit hohem Aufwand verwirklichen liessen.
Musse lässt sich nicht auf Knopfdruck verwirklichen, sie bedarf vor allem einer Sache: ausreichend Zeit. Sonst unterwirft man sie prompt wieder jenem Effizienzdenken, das bereits unseren gesamten Arbeitsalltag regiert.
"Musse ist die Intensität des Augenblicks, der sich zeitlich zu Stunden oder Tagen ausdehnen kann, um sich auf ein Einziges zu konzentrieren: Eigenzeit." Und diese "Eigenzeit" kann vieles sein – ein intensives Gespräch ebenso wie Musikgenuss oder ein spannendes Arbeitsprojekt, sie kann spielerisch oder ernsthaft sein, zielorientiert oder suchend, aber sie wird immer charakterisiert durch eine Eigenschaft, sagt Helga Nowotny: "Musse ist die Übereinstimmung zwischen mir und dem, worauf es in meinem Leben ankommt."
Zeitdruck, Stress und Selbstkontrolle
Wer über seine Aktivitäten selbstbestimmt entscheiden kann, empfindet weniger Stress und ist gesünder. Die Frage, ob wir dabei oder wenig Zeit zur Verfügung, viel oder wenig Arbeit zu bewältigen haben, tritt dagegen in den Hintergrund. Denn es belastet uns weit mehr, wenn wir keine Kontrolle haben, als wenn wir stark gefordert sind.
Opportunitätskosten und das Paradox der Entscheidungsfindung
Die (Wieder-)Gewinnung der Herrschaft über unsere Zeit ist einer der Schlüssel, um dem Gefühl der Zeitnot und des ständigen Unter-Drucks-seins zu entkommen. Die Kunst der Musse hängt allerdings noch an einer zweiten Grundbedingung, und zwar an unserer Fähigkeit, nicht ständig abzuschweifen, sondern das Glück eines Augenblicks auch wirklich ausschöpfen zu können.
Statt der Logik des Immer-mehr zu folgen, gilt es, sich klarzumachen, dass das Glück manchmal gerade in der Beschränkung liegt. Denn ob wir etwas wirklich geniessen, hängt nicht so sehr von der Sache selbst ab, sondern eher von unserer eigenen Fähigkeit, uns voll und ganz darauf einzulassen.
Das Abwägen verschiedener Alternativen kostet erstens Zeit und zweitens Energie, und es bringt zudem sogenannte "Opportunitätskosten" mit sich: Mit jeder Wahl muss man nämlich zwangsläufig auf alle anderen Alternativen verzichten. Und da uns Verluste in der Regel mehr schmerzen als Gewinne uns freuen, ist die Enttäuschung vorgezeichnet.
Je grösser die Auswahl, umso mühsamer die Entscheidung und umso höher die Opportunitätskosten.
Der Reiz des Neuen
Wenn das Einkommen steigt, nehmen auch die Wünsche zu. Da aber nicht mehr Zeit bleibt, sie alle zu erfüllen, fühlt man sich umso mehr im Zeit-Stress.
Egal, wie aufregend uns ein neuer Luxus, eine erstmals bewältigte Herausforderung oder eine neue Liebe anfangs erscheinen mögen – im Laufe der Zeit gewöhnen wir uns selbst an das grösste Glück. Wir beginnen es für selbstverständlich zu nehmen und streben alsbald danach, unseren Zustand weiter zu verbessern.
Das alltägliche Gefühl des Gehetztseins ergibt sich zu einem guten Teil aus unserem Drang, ständig nach einer Verbesserung zu suchen, und der Unfähigkeit, uns mit einem bestehenden Zustand zufriedenzugeben.
Statt immer unseren automatischen Impulsen zu folgen, müssen wir lernen, auch loszulassen und bewusst zu verzichten.
Informationsstress und Selbstkontrolle
Es ist nicht allein die zu verarbeitende Informationsmenge, die uns vom kreativen Denken und effizienten Arbeiten abhält, sondern ebenso der "Fluch der Unterbrechung". Denn die überall verfügbaren Informationskanäle lenken uns immer wieder von unserer eigentlichen Tätigkeit ab, zerstückeln unsere Arbeitszeit und schwächen damit eines unserer wichtigsten Güter: die Aufmerksamkeit.
Wenn niemand mehr Zeit findet, Dinge in Ruhe mit anderen zu durchdenken (und die anderen sich diese Zeit auch nicht nehmen), werden Probleme selten wirklich gelöst, sondern vor sich hergeschoben und vertagt – was den Arbeitsdruck noch erhöht.
In einer Informationsgesellschaft ist es auf Dauer keine Lösung, sich völlig vom digitalen Nachrichtenstrom abzukoppeln. Die Kunst liegt wie immer in der Balance, in einem souveränen Umgang mit Internet, E-Mail und Handy, der uns eher Musse schafft, statt sie aufzufressen.
Die Droge Information
Jede Mail provoziert eine Reaktion. Und jede unnütz geschriebene Mail kostet auch die Zeit des Empfängers.
Bezüglich unseres Umgangs mit Informationen stehen wir in der digitalen Welt vor derselben Herausforderung wie angesichts der unendlich verfügbaren Kalorienmenge in einem Supermarkt: Wir müssen die richtige Mischung finden und lernen, uns zu bescheiden. Längst geht es nicht mehr um die verfügbare Quantität, sondern um die Qualität dessen, was wir zu uns nehmen.
Der Muskel der Willenskraft
Unsere Fähigkeit zur Selbstkontrolle ist ein höchst wertvolles Gut, über das wir nur begrenzt verfügen; es gleicht (wie das Wort "Willenskraft" andeutet) einem Muskel, der nur eine bestimmte Spannkraft besitzt und bei übermässiger Belastung irgendwann seinen Dienst versagt.
Je mehr Willenskraft wir benötigen, umso mehr erschöpft sich diese Ressource und umso schwerer fällt uns die Konzentration auf das, was wir tun. Ist der Speicher leer, tritt das ein, was Roy Baumeister "Ich-Erschöpfung" nennt: Wir fühlen uns zu eigenständigen Entscheidungen kaum mehr in der Lage und haben enorme Mühe, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen.
Das Rezept gegen einen erschöpften Willensspeicher ist denkbar einfach. Genau genommen besteht es nur aus einem Wort: Entspannung. Schon drei Minuten aktiver Entspannung können die kurz zuvor erschöpfte Willenskraft wieder auffrischen.
Das Betriebssystem unseres Denkens
Die Schnelligkeit unseres Denkens, unsere Fähigkeit zum Fokussieren, zum Auswählen und Entscheiden – all das hängt vom Arbeitsgedächtnis ab. Leider hat dieser wunderbare Part unseres Gehirns eine entscheidende Schwäche: Sein Aufnahmevermögen ist begrenzt und daher ist es reichlich störanfällig. Diese Begrenztheit ist deshalb so bedeutsam, weil davon nicht nur unsere Aufnahmefähigkeit für neue Informationen abhängt, sondern auch unser Vermögen, störende Botschaften auszublenden. Denn um einen Störreiz zu ignorieren, muss man ihn zunächst einmal als unwichtig klassifizieren. Und genau diese Trennung zwischen Wichtigem und Unwichtigem benötigt "Rechenkapazität" in unserem Gehirn. Das heisst: Je grösser die Kapazität des Arbeitsgedächtnisses, umso leichter können wir uns konzentrieren. Und je geringer dessen Reserven, umso leichter sind wir ablenkbar und zerstreut.
Wir alle sind bei anstrengenden Aufgaben auf eine ruhige Umgebung angewiesen; je mehr äussere Reize ins Bewusstsein drängen und ignoriert werden müssen, desto schwerer fällt es uns, die Konzentration auf eine einzige Sache zu richten.
Von Füchsen, Igeln und der Kunst des Lesens
Mit dem nötigen historischen Abstand sieht man: Die Kritiker der damals "neuen Medien" waren zu sehr auf deren negative Folgen fixiert; sie konnten sich nicht vorstellen, dass diese das menschliche Denken auch erweitern und einen Kulturschub auslösen würden.
Digitale Medien wie Internet und E-Mail befördern vor allem eine Horizonterweiterung, indem sie die rasche Aufnahme einer grossen Zahl an Fakten, Meinungen und Bewertungen ermöglichen; das gründliche Lesen von Büchern dagegen geht eher in die Tiefe, lässt Zeit für kritisches Hinterfragen und schafft somit eine vertikale Bewusstseinserweiterung.
Der Wert des Nichtstuns
Müssiggängerische Zustände wie Schlafen, Meditieren oder schlichtes Aus-dem-Fenster-Schauen sind keinesfalls verlorene Zeit. Im Gegenteil: Sie fördern nicht nur Wohlbefinden und Kreativität, sondern letztlich auch die Leistungskraft.
Lernen im Schlaf
Schöpferische Einfälle kommen uns häufig gerade dann, wenn wir sie nicht herbeizuzwingen versuchen, sondern die Gedanken schweifen lassen und der sprichwörtlichen Muse die Zeit und Gelegenheit geben, uns zu küssen. Und welcher Ort wäre dafür besser geeignet als das eigene Bett?
Eine neue Sprache und schwierige Fakten sollte man möglichst abends büffeln und dann ins Bett fallen. Den Rest besorgen die Deltawellen im Tiefschlaf.
Im Paradies der Nickerchen
Wer in der Nacht zu wenig Schlaf bekommt, braucht nicht zu verzweifeln. Für ihn gibt es immer noch ein Wundermittel: das altbewährte Mittagsschläfchen.
Vom Leerlauf zum Geniestreich
Nichtstun ist allenfalls unter dem Deckmantel einer (wenigstens scheinbar) nützlichen Form wie Schlafen, Angeln oder Meditieren erlaubt. Da entspannt man sich wenigstens, ist an der frischen Luft oder fördert die Erleuchtung. Aber einfach so gar nichts tun?
Die Tatsache, dass gerade beim ziellosen Nichtstun manche Hirnbereiche stärker aktiv sind als beim zielgerichtetem Denken, legt auch eine Erklärung für jene Geistesblitze nahe, die uns mitunter aus dem Nichts heraus durchzucken. Denn wenn äusserer Input fehlt, kann das Gehirn auf einen riesigen Schatz an gespeichertem "internen Wissen" zurückgreifen.
"Setzen sie sich erst bewusst-rational mit den Argumenten auseinander, aber vertagen sie die Entscheidung. Lenken sie sich ab, schlafen sie drüber. Die vorbewussten, intuitiven Netzwerke in ihrer Grosshirnrinde erledigen den Job für sie", rät der Hirnforscher Gerhard Roth.
Serendipity-Prinzip: die zufällige Entdeckung von wichtigen, nicht gesuchten Erkenntnissen durch einen theoretisch vorbereiteten Geist.
Das Glück der Meditation
Meditieren ist mehr als nur Rumsitzen und Nichtstun.
Es gehört zu den Eigentümlichkeiten der meditativen Erfahrung, dass man ihre Wirkungen eigentlich nur demjenigen richtig verständlich machen kann, der diese Erfahrung selbst gemacht hat.
Das Grundprinzip der Meditation ist kinderleicht: sich vollständig auf das konzentrieren, was aktuell tut – und diese Erfahrung immer von Neuem wiederholen.
Vor lauter Terminen, Anforderungen und Sehnsüchten kommen wir kaum dazu, das Leben als das zu sehen, was es im Grunde ist: ein einmaliges Geschenk, dessen Wert wir meist erst dann zu schätzen lernen, wenn es zu Ende geht.
Galerie grosser Müssiggänger(innen) – Querdenker, Pausenkünstler und Abwesenheitsexperten
Die ruheliebende Olympiasiegerin – Britta Steffen
Der faule Exzentriker – John Lennon
Der Hirnforscher im Bunker – Ernst Pöppel
Die gegenwärtige Filmemacherin – Doris Dörrie
Die Methode, die Doris Dörrie zur Stressreduktion praktiziert, ist ziemlich ungewöhnlich. "Ich stelle mir den Tod vor, sehe mich als Skelett an seiner Seite und frage mich dann selbst als Tote, was ich von dem halte, was ich gerade im Leben mache."
In Anbetracht unserer kurzen Zeit auf Erden sei "das meiste, was wir tun, ziemlich lächerlich."
Der freiheitsliebende Unternehmer – Yvon Chouinard
Arbeit verstand Chouinard nie als reines Profitstreben, sondern als Mittel zum Zweck, um das Leben führen zu können, das ihm vorschwebte.
Auf einem toten Planeten kann man keine Geschäfte machen. Deshalb ist weniger manchmal mehr.
Der trendresistente Maler – Manfred Jürgens
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Die Achtsamkeitstrainerin – Yeshe Sangmo
"Man muss mit vollem Herzen dabei sein und selbst leben, was man sagt", sagt Yeshe. Und man müsse bereit sein, sich auf jeden Moment einzulassen, "ohne zu wissen, was er bringt."
Komponist der Stille – John Cage
Cage führt seinen Zuhörern vor Ohren, dass wir ständig von Musik umgeben sind, dass der Ton eines fallenden Steins so schön sein kann wie der einer Flöte. Cage selbst erklärte dazu einmal: "Die Musik, die mir am liebsten ist und die ich meiner eigenen oder der irgendeines anderen vorziehe, ist einfach die, die wir hören, wenn wir ruhig sind."
Ob man etwas als Kunst ansehe oder nicht, hat weniger mit der Sache an sich zu tun, sondern eher mit der Herangehensweise des Betrachters oder Zuhörers: If you celebrate it, it's art, if you don't, it isn't.
Der erste Künstler
Erst als Homo sapiens Zeit für scheinbar nutzlose Tätigkeiten fand, für Malerei, Bildhauerei, Musik oder die Betrachtung der Sterne, entwickelte er seinen Sinn für Kunst und Wissenschaft, und damit für genau jene Qualitäten, die seine Gattung am Ende nachhaltiger voranbrachten als jeder noch so erfolgreiche Jagd- oder Beutezug.
Gerade die aus dem üblichen Alltagstrott herausfallenden Taugenichtse, die Künstler, Philosophen, Dichter oder Erfinder produzierten oft jene Gedanken, die sich als wirklich neu und zukunftsweisend herausstellten.
Das System der Gehetzten
Das Glück liegt manchmal direkt vor unseren Füssen, und das Einzige, was uns davon abhält, es zu geniessen, ist häufig ausgerechnet die Jagd nach dem Erfolg.
Wie Zeit zu Geld wurde
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"Modernity is speed"
Das moderne Subjekt ist durch ein Gefühl tiefer Verunsicherung charakterisiert; und dieses Gefühl wird oft durch eben jenen Drang bekämpft, der es ausgelöst hat: durch den Versuch nämlich, Arbeitsprozesse noch schneller zu bewältigen, ereignislose Wartezeiten noch mehr zu verkürzen und, allgemein gesprochen, noch mehr "Leben" in noch kürzerer Zeit zu erleben. Daraus resultiert ein allgemeiner Hang zur fortwährenden Beschleunigung aller Lebensbereiche.
Parallel zur technischen Beschleunigung erleben wir einen immer rascheren sozialen und kulturellen Wandel. Wir sind zunehmend bereit, uns auf Neues – eine neue Arbeitsstelle, einen Umzug, einen neuen Lebenspartner – einzulassen und Altbewährtes über Bord zu werfen. [...] Das führt automatisch dazu, dass die Halbwertszeit unseres Erfahrungswissens dramatisch sinkt. All das hat eine wachsende Instabilität der sozialen Welt zur Folge, was insgesamt zu einer tiefgreifenden Verunsicherung führt.
Rasender Stillstand oder Ökologie der Zeit?
Leben als letzte Gelegenheit
Für gewöhnlich sind wir alle Meister im Verdrängen des Todes. Wir führen unser Leben in der Regel so, als wären wir unsterblich. Und doch ist da irgendwo im Unterbewusstsein dieses nagende Gefühl der eigenen Endlichkeit, die Ahnung, dass all unser Bemühen, all unsere Erfolge eines Tages hinfällig werden.
Wer die Aussicht auf eine Fortsetzung des Lebens im Jenseits verloren hat, dem bleibt nur eine Hoffnung auf das Paradies – er muss es hier und heute verwirklichen.
Was wir auch tun und wofür wir uns auch entscheiden – wir müssen uns damit zwangsläufig gegen alle anderen möglichen Alternativen entscheiden; und je schneller unser Tempo und umso grösser die Zahl der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, umso nagender das Gefühl, diese Vielzahl nie ganz "ausschöpfen" zu können. Und wie so oft bekämpfen wir das Problem mit just derselben Strategie, die es herbeigeführt hat: Wir versuchen unser Lebenstempo noch mehr zu beschleunigen, um noch weniger zu verpassen.
Musse erleben wir immer dann, wenn wir etwas um seiner selbst willen tun und nicht aus dem Ehrgeiz heraus, irgendwohin zu gelangen oder irgendetwas erreichen zu wollen.
Inseln der Musse
Vom Reisen und vom Ankommen
Die grosse Illusion des Reisens besteht in dem Glauben, Musse und Entspannung würden sich quasi von selbst einstellen, sobald wir am Urlaubsort dem Flieger oder dem Auto entsteigen. Wir stellen uns vor, wir könnten bruchlos in eine andere (Zeit-)Kultur eintauchen und unser gehetztes Ich einfach zuhause zurücklassen. Tatsächlich aber nehmen wir unsere Gewohnheiten immer mit.
Erst in der Fremde spüren wir, wie sehr wir unser vertrautes Zeitregime verinnerlicht haben und wie schwer es fällt, von einem hektischen Arbeitsalltag in einen Modus entspannter Musse umzuschalten.
Ins Blaue hinein denken
Das Zusammenleben vieler Menschen mit unterschiedlichen Ideen auf engem Raum bringt immer neue, ungeahnte Kombinationen hervor und erzeugt eine Atmosphäre ständiger Inspiration. Nicht umsonst gelten grosse Metropolen als die Motoren künstlerischer, wirtschaftlicher und sozialer Innovation. Doch zugleich ist das Stadtleben enorm belastend, und seine vielfältigen Angebote bergen ein enormes Zerstreuungspotenzial. Da gilt es, die richtige Balance zu finden. Man kann das städtische Getriebe hervorragend als Nährboden für neue Anregungen, Einfälle und Pläne nutzen. Doch um diese in die Praxis umzusetzen, brauchen wir oft jene Musse, die uns eine reizarme, ablenkungsfreie Umgebung gewährt.
Wer kreative Ideen zu entfalten sucht, braucht vor allem Zeit und Ungestörtheit.
Die Odysseus-Strategie
Wir hassen es zwar, wenn man die Zahl unserer Möglichkeiten einschränkt; doch zugleich kann das durchaus etwas Stimulierendes haben.
Man kann zwar die äusseren Bedingungen beschreiben, die einen Zustand der Musse fördern; wie dieser dann aber erlebt wird, wie man ihn ausfüllt und wozu er uns inspiriert, hängt von jedem selbst ab.
Entscheidend ist nicht, was wir tun, sondern dass wir an den Punkt kommen, an dem wir unsere echten Bedürfnisse wieder spüren und wahrnehmen, wodurch das Leben für uns Bedeutung gewinnt.
Musse und Flow
Statt ständig zu fragen, was eine bestimmte Aktivität für unser Fortkommen, unser Bankkonto oder unser Ansehen bringt, können wir diese Logik genauso gut umdrehen und die Frage stellen, inwiefern uns die Karriere, das Konto oder das Ansehen hilft, unser Leben im Hier und Jetzt zu geniessen.
Je häufiger es uns gelingt, Flow zu erleben, umso höher ist unsere Lebensqualität. Jedes andere Ziel – Gesundheit, Reichtum oder Erfolg – erstreben wir ja nur, weil wir hoffen, dass es uns glücklicher machen wird.
Beurteilen wir unser Leben nach dem Kriterium, wie häufig und intensiv wir Flow erleben, ergibt das eine völlig andere Werteskala als jene, die sich an der Höhe unseres Gehalts, dem Prestige unseres Berufs oder der Grösse unseres Autos orientiert.
Man sollte sich Herausforderungen suchen, die zwar unsere gesamte Konzentration beanspruchen, die aber gerade noch zu bewältigen sind – also Tätigkeiten, die uns weder überfordern noch langweilen.
Wer seine Musse geniessen will, tut gut daran, sich nicht zu sehr mit anderen zu vergleichen, sondern den Blick auf die eigenen Möglichkeiten zu richten.
Abenteuer kann man auf die verschiedensten Arten erleben, und die Musse liegt manchmal gleich um die Ecke. Und es gibt nahezu unendlich viele Möglichkeiten, eingefahrene Gewohnheiten aufzubrechen – wir müssen sie nur ergreifen.
Das Nichts strukturieren
Um feststellen zu können, was uns wirklich wichtig ist und was wir mit unseren Freiräumen anfangen wollen, ist es hilfreich, nicht ständig mit den Wünschen, Zielen und Werten anderer Menschen konfrontiert zu sein. Sonst sind wir stets abhängig von deren Wohlwollen.
Wege der Veränderung
Nichts beflügelt uns mehr als Einfälle, die uns selbst gekommen sind, und Pläne, die wir selbst gemacht haben. Die klugen Ratschläge, die uns andere geben, erzeugen dagegen leicht das Not-invented-here-Syndrom: was wir nicht selbst erfunden haben, empfinden wir leicht als Zwang von aussen. Automatisch rührt sich dagegen Widerstand in uns.
Der erste Schritt zur Musse besteht darin, die inneren und äusseren Widerstände überhaupt erst einmal wahrzunehmen und sich mit ihnen vertraut zu machen. Der zweite Schritt lässt sich auf ein Wort reduzieren: Nein. Nein zu all den Angeboten und Verheissungen, die von aussen an uns herangetragen werden und sich unserer (knappen) Aufmerksamkeit bemächtigen wollen. Nein aber auch zu unserem Drang, solchen Ablenkungen bereitwillig zu folgen. Es hilft, sich immer wieder selbst zu fragen: Muss ich das unbedingt tun? Will ich das wirklich tun? Um darauf eine klare Antwort zu finden, ist es notwendig – dritter Schritt – sich über den Kompass des eigenen Lebens klar zu werden.
Ein Freund, ein guter Freund ...
Wer froh und entspannt sein will, findet dazu kaum ein besseres Mittel, als sich frohe und entspannte Freunde zu suchen und mit diesen möglichst viel Zeit zu verbringen. Ganz automatisch färbt deren Seelenzustand auf uns ab, und ohne grosses Zutun übernehmen wir nach und nach deren Einstellungen, Ansichten und Verhaltensweisen.
Mehr Freiheit am Arbeitsplatz
Es kommt gar nicht so sehr auf die reine Zahl unserer Arbeits- und Freizeitstunden an. Viel wichtiger sind die Umstände unserer Arbeit und die Art und Weise, wie wir unsere Freizeit verbringen.
Um so etwas wie Musse oder Flow auch bei der Arbeit zu erleben, sollten wir daher nach Möglichkeit versuchen, die Bedingungen unserer Arbeit so zu verändern, dass wir unsere Zeit nach eigenem Gusto strukturieren können; im Idealfall suchen wir uns sogar unsere Herausforderungen selbst.
Grabreden und andere Motivationshilfen
Um sich über die Ziele des eigenen Lebens klar zu werden, gibt es kaum ein besseres Mittel, als die Sache einmal vom Ende her zu denken und die eigene Grabrede zu schreiben.
Ein Trainingsprogramm für die Ruhe
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