Gerron

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  • ISBN: 978-3312004782
  • Mein Rating: 9/10

Gerron ist die (fiktive) Lebensgeschichte von Kurt Gerron, in welchem er von seinem Einsatz im ersten Weltkrieg – zuerst als Soldat, später als Arzt – erzählt, von seinen Erfolgen als Schauspieler und Regisseur zwischen den beiden Weltkriegen, und von seinen Aufenthalten in den Konzentrationslagern Westerbork und Theresienstadt, und insbesondere auch über den Propaganda-Film, den er über Theresienstadt drehen muss.

Gerron ist ein ungewöhnliches Buch, da es die fiktive Autobiografie einer realen Person ist. Beim Lesen habe ich mich daher immer wieder gefragt: Was ist real, und was ist erfunden? Leider bleibt einem der Autor die Antworten auf diese Fragen schuldig, am Schluss erfährt man nur, dass der reale Kurt Gerron und seine Frau in Auschwitz ermordet wurden, nur wenige Tage bevor die Vergasungen dort endgültig eingestellt wurden...

Zitate aus dem Buch

Er war nett zu mir, und das macht mir Angst.

Es fährt immer ein nächster Zug nach Auschwitz.

Der SS-Mann schlug mich ins Gesicht, wie sie es meistens tun. Aber nicht mit voller Kraft. Ich werde noch gebraucht.

Wenn man schon wüsste, wie es aufhört, würde man anfangen wollen? Würde man sich nicht die Nabelschnur um den Hals winden, um erwürgt zu sein, noch bevor man an die Luft kommt? Würde man nicht Mittel finden, um gar nicht erst an den Start zu gehen bei einem Rennen, das man schon verloren hat?

Die Mutter allerdings ging noch am Tag ihrer Ankunft nach Osten. Sie hatte mit der unbotmässigen Geburt die Transportpapiere durcheinandergebracht und durfte zum Ausgleich eine andere Liste vervollständigen.

Es tut gut, mit Olga zu schweigen.

Man hatte bei seinen Heiterkeitsanfällen immer den Eindruck, dass er sich gleich übergeben würde.

Wir haben uns alle als Propheten versucht, all die Jahre, und keiner hat etwas vorausgesehen.

Einen Film dreht man nicht im Zug nach Auschwitz. Solang ich daran arbeite, bin ich sicher.

Sie haben meine Eltern nach Sobibor geschickt. Und jetzt soll ich ihnen helfen, der Welt vorzulügen, dass sie eigentlich ganz nett zu uns sind?

Beten müsste man können. Einen Gott müsste es geben, den man fragen kann. Nur: Es gibt keinen Gott. Einen lieben schon gar nicht.

Wenn ich als kleiner Junge Papa gefragt hätte: "Liebst du mich?", hätte er geantwortet: "Das ist doch selbstverständlich." Was selbstverständlich ist, muss ein logisch denkender Mensch nicht auch noch demonstrieren.

Gerade die Orte, an die man sich nicht erinnern will, vergisst man nie.

Ich kannte die Regeln nicht und machte daher alles falsch. Die andern mochten das. Sie konnten mich bei jedem Fehler auslachen, was sie ganz ohne Bösartigkeit taten.

Mit einem Ziel vor Augen habe ich immer dazu geneigt, meine Fähigkeiten zu überschätzen.

Sie wollten uns fürs Leben vorbereiten, aber das hielt sich dann nicht an ihre Lehrbücher.

Es gibt Wünsche, die sind in der Vorstellung reizvoller als in der Erfüllung.

Eine Uhr: zwei Kartoffeln. Wenn sie aus Gold ist, manchmal drei. Kein guter Preis, aber Uhren kann man nicht essen.

In einer logischen Welt würde man überhaupt nur Kinder in den Krieg schicken. Sie geben kleinere Zielflächen ab.

Der Pfahl mit der Offiziersmütze, vor der wir das Salutieren übten. "Ei, Vater, sieh den Hut dort auf der Stange", zitierte einer und wurde wegen Klugscheisserei zu einer Runde Froschhüpfen verdonnert. Man verschwieg besser, dass man Abitur hatte.

In einem Raum mit hundert anderen zu schlafen, wo immer einer schnarchte oder furzte, das war fast das Schlimmste für mich.

Die Vorstellung, ein Bordell zu besuchen, machte mir mehr Angst als der ganze Krieg. Und versprach andererseits ein Abenteuer, das ich um nichts in der Welt hätte versäumen mögen.

Unser erster Toter. In meinem Gedächtnis ist nichts von ihm übriggeblieben als der grosse rote Pickel an seinem Hals.

Man erinnert sich nur an das, was man ertragen kann.

"Aus dem habe ich, um die Familie zu trösten, einen so gewaltigen Helden gemacht, dass sein Vater hinterher einen Beschwerdebrief losliess. Mit der Forderung, sein Sohn müsse für seine Taten posthum einen Orden bekommen. Den hat er dann auch gekriegt. Das EK II. Für besondere Tapferkeit. Dafür, dass er von einem Auto überfahren wurde."

In Theresienstadt heisst Luxus: eine Scheibe Brot.

Ein toter Held ist auch nur eine Leiche.

Warum mit jemandem Freundschaft schliessen, der mit grosser Wahrscheinlichkeit schon sehr bald tot sein wird?

Man kann aus jedem Toten einen Helden machen. Man darf sich bloss nicht durch Tatsachen stören lassen.

Wenn man Glück hat, sind die Zutaten so verkocht, dass man sie nicht erkennt. Wenn man Pech hat, erkennt man sie.

Bei den Sezierübungen kotzten nur die Zivilisten. Die an der Front gestanden hatten, waren Schlimmeres gewöhnt.

Wer immer meine Lebensgeschichte erfunden hat, ist ein mieses Arschloch. Aber eine gewisse Kreativität kann man ihm nicht absprechen.

"Auf dem Dienstweg ist man immer auf dem Holzweg."

Ich hab den Leuten die Zeit vertrieben und ganz nebenher für einen Beruf geübt, von dem ich damals noch nicht einmal träumte.

Man müsste tot sein können, ohne vorher sterben zu müssen.

Der Friede war so ungeplant ausgebrochen wie vier Jahre vorher der Krieg. Genauso chaotisch. Und hielt genauso wenig, was man sich von ihm versprach.

Im Lager herrscht Kommunismus. Keiner hat etwas, und das wird brüderlich geteilt.

Mein Aberglaube hat mir im Leben so wenig geholfen wie anderen ihr Glaube.

Ist von der Bühne gefallen, was ihm den einzigen Applaus seines Auftritts eintrug.

Was nicht hängen bleibt, war auch nicht wichtig.

Das ist der Nachteil eines Medizinstudiums: Wenn man selber was hat, fallen einem immer gleich die scheusslichsten Komplikationen ein.

Wenn uns später jemand fragte: "Wie war das bei euch, als ihr euch kennengelernt habt?", dann antwortete Olga immer: "Mein Mann hat mich angesehen, als ob ich die hässlichste Frau der Welt wäre."

Irgendwann werde ich meinen Entschluss fassen. Den falschen Entschluss, weil es einen richtigen nicht geben kann.

Organisieren beruhigt. Wer organisiert, kann sich einreden, die Dinge seien beherrschbar.

Alles ist hier bestens organisiert. Sogar die Dinge, die gar nicht existieren. Es gibt exakte Pläne, wie viele Kartoffeln jeder von uns zu kriegen hat. Pro Tag, pro Woche, pro Monat. Nur dass gar keine Kartoffeln da sind, oder doch nur verfaulte. Aber wenn es welche gäbe. würden sie korrekt verteilt. Theoretisch.

"Du hast es gut, du kannst nicht dick werden, du bist es schon."

Der Vater der Braut lag mitten im Gemüse auf dem Rücken, zappelte mit den Beinen wie ein Maikäfer und konnte sich über die Komik der eigenen Lage gar nicht beruhigen.

Wir hatten unseren Aufstieg gemeinsam, die Nazis und ich. Ich wurde berühmt, sie kamen an die Macht. Das eine war schuld, dass ich das andere nicht bemerkt habe.

Ich war ja ein Star. Ein eitles Starschloch.

Mut ist ein Muskel. Er wird stärker, wenn man ihn benutzt.

Da ich der einzige in der Mannschaft war, der schon mal Tonfilm gemacht hatte, hielten mich alle für ein Genie. Es wäre unhöflich gewesen, ihnen zu widersprechen.

Bei den tschechischen Gendarmen weiss man nie, was einen erwartet. Nicht wie bei der SS, wo man sich jederzeit auf das Schlimmste verlassen kann.

Er spielte ein Spiel, dessen Regeln ich nicht verstand.

Ein Mann mit Judenstern und einer in SS-Uniform. Bei einem gemütlichen Bierchen zu zweit. Ich konnte es mir einfach nicht vorstellen.

Man kann sich eine Hölle nicht vorstellen, wo man mit der Strassenbahn hinfährt.

Wir waren keine Menschen mehr. Das hatte man uns aberkannt. Wir waren Zahlen in einer Statistik. Abhakpunkte auf einer Liste.

Ungewissheit ist Folter.

Krieg ist wie Kino: Die besten Plätze sind hinten.

Die Leute klatschten zwar im Takt, aber sie waren nur begeistert, um nicht verzweifelt sein zu müssen.

Hatte "Auf Wiedersehen" gesagt und hätte die Worte am liebsten gleich wieder verschluckt. Weil sie für die, die noch bleiben durften, wie ein Fluch klingen mussten. Auf Wiedersehen in Theresienstadt. Auf Wiedersehen in Auschwitz.

Irgendwann ist Optimismus nur noch absurd. Nicht in jedem Scheisshaufen steckt ein Goldstück.

"Ich versuche das Beste zu tun, glauben sie mir. Auch wenn ich weiss, dass dieses Beste abgrundtief schlecht ist."

"Sie wissen vieles nicht, Gerron. Ich beneide sie darum. Ich würde eine Menge darum geben, manche Dinge nicht zu wissen."

Frau Olitzki ist nicht hübsch. Auch nicht hässlich. Unauffällig. Sie kann Schreibmaschine schreiben und vergisst nicht, was man ihr aufträgt. Mehr hat mich an ihr nicht interessiert.

Als er zum zehnten Mal gefragt hat: "Wie möchte der Herr Regisseur es haben?", hat ihn ein SS-Mann angeschnauzt: "Das ist nicht der Herr Regisseur, das ist der Scheissjud Gerron."

Er gibt sich und hat Mühe. Ein Anfänger halt.

Probleme, die sich lösen lassen, tun gut. Es sind die unlösbaren, die einem die Kraft rauben.

Auch wer nichts hat, kann Kostbarkeiten besitzen.

Solange wir noch unsere eigenen Gedanken denken, solange sind wir noch Menschen.

Es ist in Theresienstadt verboten, eine Tür hinter sich abzuschliessen. Die SS will sich nicht die Mühe machen müssen, sie einzutreten.

Auf einem Bild war Hitler zu sehen. Mit ausgestrecktem Arm hinter einem Mikrophon. Ob wohl die Todesstrafe darauf steht, wenn man sich mit ihm den Arsch abwischt?